Blog: Übertragbare Erkenntnisse aus seltenen Krankheiten?
von Therese Stutz Steiger
Wer von einer seltenen Krankheit betroffen ist, sei es als Patient oder als Angehöriger, bekommt immer mal wieder zu hören: «Das hatten wir so noch nie.» Neuland muss betreten werden, Pioniergeist ist gefragt. Die Erfahrungen und Erkenntnisse all dieser Pioniere könnten für das ganze Gesundheitswesen wertvoll sein. Man müsste sie nur endlich ernst nehmen und nutzen.
Ich begrüsse es sehr, dass sich ein Themenblock des Careum Congress 2014 den seltenen Krankheiten widmet, chronischen Krankheiten also, die zu 80% genetisch bedingt sind. Deren Träger können nicht auf eine grosse Zahl von spezialisierten Fachleuten und Dienstleistungsstellen zählen. Mit weniger als 5 Fällen auf 10’000 Erwachsene fallen sie im Gegensatz zu den klassischen «non communicable diseases» in den globalen Statistiken nicht gleich ins Auge. Wobei anzufügen ist, dass von seltenen Krankheiten Betroffene bei uns viel bessere Perspektiven haben als in Ländern mit einem weniger gut ausgebauten Gesundheitssystem. Aber auch hierzulande ist die Bandbreite unter den Patienten mit seltenen Krankheiten gross: Neben relativ gut betreuten gibt es auch bei uns vernachlässigte.
Seltene Krankheiten sind manchmal lebensbedrohlich, nicht selten sind sie chronisch invalidisierend. Eine Diagnose im Frühstadium ist eher die Ausnahme als die Regel. Oft dauert es viele Jahre, bis Klarheit herrscht – Jahre ohne standardisierte Betreuung, ohne die nötige unterstützende Therapie, Rehabilitation und psychosoziale Unterstützung. Familien – Eltern und Kinder –, die damit konfrontiert sind, stehen nicht nur bei der Bewältigung des Alltags vor grossen Herausforderungen; anspruchsvoll ist für sie auch die Navigation durch unser Gesundheitssystem, das sich gegenüber solchen Patienten nicht gerade «gastfreundlich» zeigt. Eine weitere Belastung stellt die Rechtsunsicherheit im Zusammenhang mit der Übernahme der Kosten dar.
Die Krankheitsverläufe können sehr unterschiedlich sein, chronisch stabil oder schlechter werdend oder chronisch mit akuten Einbrüchen, die je nachdem eigentliche Notfallmassnahmen erforderlich machen. Es gibt Gruppen von Betroffenen, die unter angepasster Behandlung ein gutes Leben führen können. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass sie nicht am Zugang zur Schule oder zum Sozialleben generell gehindert werden. Leider ist dies in manchen Gemeinden der Schweiz immer noch der Fall. Es gibt Krankheiten, in deren Verlauf in erster Linie die Betroffenen selbst lösungsorientierte persönliche Strategien entwickeln. Einige Menschen mit einer chronischen Erkrankung müssen ihre Identität als Menschen mit Behinderungen finden. Entscheide rund um den Berufswunsch oder am Arbeitsplatz zwingen sie zu lernen, wie sie am besten auf Diskriminierungen durch Arbeitgeber und Behörden reagieren können. Der Umgang mit Sexualität und Partnerschaft ist für viele eine grosse Herausforderung.
Im Kindesalter können sich viele Betroffene dank dem Engagement von Eltern und Geschwistern und dank gut eingespielten interdisziplinären medizinischen Teams eingebettet fühlen. Mit dem Übergang ins Erwachsenenalter nimmt nicht nur die Intensität, sondern oft auch die Qualität der Betreuung ab. Die Fachpersonen sind für diesen Wechsel kaum sensibilisiert, manchmal kann auch der Eindruck entstehen, sie seien daran gar nicht richtig interessiert. Gleiches gilt auch für den Übergang in die Altersphase. Was für kerngesunde Menschen eine Selbstverständlichkeit ist, gilt erst recht und in viel stärkerem Mass für von seltenen Krankheiten Betroffene: Der neue Lebensabschnitt muss sorgfältig, vorausblickend und mit hoher Lernbereitschaft angegangen werden.
Über 7000 seltene Krankheiten sind heute bekannt, rund 100 Organisationen für Patienten mit seltenen Krankheiten gibt es in der Schweiz. Etwa die Hälfte dieser Organisationen ist ProRaris (www.proraris.ch) angeschlossen, der 2010 gegründeten Allianz Seltener Krankheiten – Schweiz. ProRaris vertritt rund 20’000 Patienten und engagiert sich für den Zugang von Menschen mit Seltenen Krankheiten zur Gesundheitsversorgung. «Verschieden aber vereint» lautet ein Slogan von ProRaris, denn auch wenn jede dieser Krankheiten die Betroffenen bzw. Angehörigen mit ganz unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert, so sehen sich doch fast alle vor die gleichen Probleme gestellt: Administrative Hürden, schwer auffindbare Informationen, kaum wissenschaftliche Forschung, lange währende Diagnosestellungen, unzureichende Behandlung, erschwerte Integration in der Schule und am Arbeitsplatz, psychosoziale Isolation. Ich beschränke mich hier auf ein paar Stichworte. Weiteres werden Vertreterinnen und Vertreter der deutschen, österreichischen und schweizerischen Dachorganisationen an einem Workshop berichten und diskutieren. Alle drei nationalen Verbände sind Mitglieder von Eurordis, der europäischen Organisation für seltene Krankheiten.
Es ist immer wieder beeindruckend zu sehen, mit wie viel Power und Ausdauer sich Betroffene, bzw. Angehörige für ihren Platz und ihre Rechte im Gesundheitssystem einsetzen. Sie vernetzen sich, sie verschaffen sich Gehör, sie suchen und finden Wege zur Förderung und zum Ausbau der Selbsthilfe. Es ist doch sehr zu hoffen, dass dieses Wissen und diese Erfahrungen in den nationalen Aktionsplan für Seltene Erkrankungen einfliessen, den die Schweizer Behörden bis 2014 erarbeiten wollen. Aber eigentlich müsste man gleich noch einen Schritt weiter gehen: Es gilt, Möglichkeiten und Grenzen des Empowerments ganz generell am Beispiel von Patienten mit einer seltenen Krankheit (und ihren Angehörigen) zu untersuchen. Ich bin überzeugt, dass hier für unser Gesundheitswesen modellhaft viele wertvolle Erkenntnisse gewonnen werden können. Man müsste einfach mal genauer hinschauen. Nur tut man das zu selten, nicht nur bei den seltenen Krankheiten, aber hier speziell.
Frauen, fühlt euch trotz der einseitig männlichen Formulierungen auch angesprochen.
Therese Stutz Steiger
Public Health Consultant, Mitglied ProRaris (05-12-2013)